Jahresgabe 2002

Faksimile aus dem Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv

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Editorische Notiz
Im Dezember 1937 hatte der Schweizer Schriftsteller-Verein SSV unter seinen Mitgliedern einen Wettbewerb für ein Schauspiel ausgeschrieben, das an der Landesausstellung Zürich 1939 gezeigt werden sollte. Albert J. Welti machte sich umgehend an die Arbeit: "Es kam mir dabei zustatten, dass ich mich der Mundart als sprachliches Ausdrucksmittel bedienen durfte, denn in jenen Jahren der Nazibedrohung lag es mir am Herzen, ein schweizerisches Volksstück zu schreiben, das ohne Frömmelei einen christlichen und ohne politisches Vokabular einen demokratischen Standpunkt zu verfechten bestimmt war."

Die Jury war sich im Dezember 1938 sogleich einig, von den 15 eingereichten Arbeiten Albert J. Weltis Drama "Vatterschaft" mit dem ersten Preis auszuzeichnen. Sie äusserte aber den Wunsch nach einem anderen Titel, und so erhielt das Stück den Namen "Steibruch". Den gleichzeitig ausgeschriebenen Wettbewerb für ein französischsprachiges Bühnenwerk gewann Jean-Paul Zimmermann mit "Les Vieux Prés".

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Die Uraufführung des "Steibruch" - mit der am 7. Mai 1939 das Landesausstellungstheater eingeweiht wurde - war ein sorgfältig geplantes und umsichtig in Szene gesetztes Ereignis von nationaler Bedeutung. Mit ihr wurde der Beweis kultureller Eigenständigkeit auf dem Gebiet des Theaters angetreten und demonstriert, dass die Schweiz in der Lage sei, mit einheimischen Kräften ein anspruchsvolles Drama auf professionellem Niveau aufzuführen. Das Ausstellungstheater im allgemeinen und "Steibruch" im speziellen sollten zeigen, dass es ein Schweizer Theater gab, das - bis in die Sprache - ohne Deutschland auskommen konnte. In den Hauptrollen spielten Heinrich Gretler, Margrit Rainer und Johannes Steiner, Regie führte Sigfried Steiner.
Das faksimilierte Dokument zeigt eine Doppelseite aus dem Entwurfheft zu "Steibruch" mit drei Textfassungen der 1./2. Szene des 4. Aktes. Welti hatte die Gewohnheit, die verschiedenen Bearbeitungen eines Textes in Spalten nebeneinander zu schreiben, so dass er bis zu drei Fassungen gleichzeitig überblicken konnte. Die Anordnung der Spalten ist symmetrisch: die beiden äusseren, mittleren und inneren gehören jeweils zur gleichen Textstufe. Durch dieses Arrangement ist es möglich, die Seiten jeweils so zusammenzufalten, dass die beiden korrespondierenden Spalten nebeneinander zu liegen kommen.

Biographische Notiz
Albert J. Welti, geboren am 11. Oktober 1894 im zürcherischen Höngg, ist erst mit einiger Verspätung als Schriftsteller hervorgetreten. Zunächst besuchte er verschiedene Kunstschulen in München, London und Madrid und versuchte, in die Fussstapfen seines früh verstorbenen, überstarken Vaters - des Malers Albert Welti - zu treten, doch blieb er mit seiner traditionalistischen Malerei weitgehend ohne Erfolg.
Nach einem Aufenthalt auf Mallorca liess er sich 1922 in Genf nieder, wo er sich weiter der Malerei widmete, ab Mitte der Zwanzigerjahre aber verstärkt dem Schreiben zuwandte. Welti begann Erzählungen zu verfassen, vor allem aber Theaterstücke, darunter "Maroto und sein König" (1926), "Servet in Genf" (1930) und "Mordnacht" (1937).

In seinen Mundartdramen bezeugte Albert J. Welti eindrücklich die Literaturfähigkeit des Dialekts, insbesondere in seinem Erfolgsstück "Steibruch", das an der Schweizerischen Landesausstellung Zürich 1939 uraufgeführt wurde. Welti hatte damit ein Drama verfasst, das als zentraler literarischer Text der Geistigen Landesverteidigung gelten kann, aber auch ein Stück, dessen schlichte und deshalb so berührende Darstellung menschlicher Konflikte der Zeit standhielt.

Ab den Vierzigerjahren wandte sich Welti vermehrt der Epik zu und veröffentlichte mit "Wenn Puritaner jung sind" (1941) und "Martha und die Niemandssöhne" (1948) zwei gross angelegte Generationen- und Gesellschaftsromane. In ihnen entwarf er ein gesellschaftliches Panorama, in dessen Zentrum er die Fragen nach Identität und Moral stellte. Indem er seine Figuren konsequent im Spannungsfeld von Individualität und Gesellschaft ansiedelte, zwischen der Tradition und einer forciert sich verändernden Gegenwart, beschrieb er die Schweiz im Wandel der Moderne.