Jahresgabe 2003

Faksimile aus dem Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv

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Editorische Notiz
"Nach Vaters Pensionierung waren wir eigentlich arm und lebten von der Vermietung des Hauses, das der Vater vor Jahrzehnten gekauft hatte, wobei die eine von zwei Mieten den Hypothekarzins bezahlte. Dieses Haus war ein Reichtum, den man ihm nicht ansah, den man nur um den Preis der Heimatlosigkeit hätte versilbern können. Also musste man es festhalten und dafür dürftig bleiben". Das Haus, das der Schriftsteller Adolf Muschg in seinen Frankfurter Vorlesungen 1980 schilderte, hat der Schüler im Alter von elf Jahren auf einem Plan festgehalten. Es ist der "Lageplan meiner Kindheit", die Topographie seiner Jugend an der Zürcher "Goldküste". Hier ist Adolf Muschg am 13. Mai 1934 zur Welt gekommen, als Sohn eines Lehrers, der altersmässig sein Grossvater hätte sein können. Seine Halbgeschwister aus Vaters erster Ehe waren der Literaturwissenschaftler Walter Muschg und die die Jugendbuchautorin Elsa Muschg.

Das Dorf, das der Schüler zeichnete, taucht später im Werk des Autors auf. Im Mittelpunkt von Muschgs zweitem Roman "Gegenzauber" steht die Kreuzung des Zürichseedorfes Überseen, wo die Gustav-Adolf-Schenkel-Strasse von der Bergstrasse abzweigt. Einzelne Kapitelabschnitte des Buchs, in dem die Nachkriegsgesellschaft vermessen wird, tragen den Titel "Katasterblatt".

Adolf Muschgs Lageplan hat in der Schweizer Literatur eine Parallele: Auch Friedrich Dürrenmatt zeichnete einen Plan des Dorfs seiner Jugend. Allerdings tat er das als Erwachsener. Aus der Retrospektive fügte er in den Plan Konolfingens die literarischen Motive ein, die in sein Werk eingeflossen waren. Für Dürrenmatt wie für Muschg ist das Dorf der Jugend der Mikrokosmos, in dem sich Heimat und Heimatverlust spiegeln.

Adolf Muschg wurde am 13.5.1934 in Zollikon (ZH) geboren und lebt heute in Männedorf bei Zürich. Er studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie in Zürich und zwei Semester in Cambridge. Nach Lehraufenthalten an verschiedenen deutschen, schweizerischen, japanischen und amerikanischen Universitäten war Adolf Muschg von 1970 bis 1999 als Professor an der ETH in Zürich tätig. Er zählt zu den angesehensten und einflussreichsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart und hat ein umfangreiches literarisches Oeuvre geschaffen, das in zehn verschiedene Sprachen übersetzt worden ist. Adolf Muschg ist mit vielen literarischen Preisen ausgezeichnet worden, darunter mit dem Georg-Büchner-Preis. Das Archiv enthält u.a. Notizen, Studien, Arbeitsmaterialien und Manuskripte zu Muschgs Werken, Korrespondenzen, Ton- und Bildträger sowie persönliche Dokumente wie Tagebücher und Agenden.