Jahresgabe 2009

Faksimile aus dem Nachlass Hermann Burger im Schweizerischen Literaturarchiv

Editorische Notiz
«Die Clematis» (3. Fassung)

Hermann Burgers literarische Laufbahn begann mit der Veröffentlichung der Rauchsignale, einer
Sammlung von 41 von Ingeborg Bachmann, Paul Celan und Erika Burkart beeinflussten Gedichten. Gut zehn Jahre später folgte der zweite Lyrikband, die Kirchberger Idyllen, die in vier Duodezhefte mit je zehn Idyllen in der klassischen Form des Distichons gegliedert sind. Sie sind dualistisch im existenziellen Sinne angelegt und enden mit dem fast schon programmatischen Titel «Diesseits und jenseits der Mauer»; es ist die Mauer, die das Pfarrhaus vom Kirchhof und damit das Leben vom Tod trennt:

Diesseits der Mauer darf gelten: wer lebt, der lebe, auf ewig!
Jenseits: gestorben ist tot! Keiner kam jemals zurück.

«Die Clematis» steht zwar vom Schaffensprozess her gesehen am Anfang der zwischen Sommer 1978 und April 1980 entstandenen Kirchberger Idyllen, ist allerdings im Gedichtband erst im dritten Duodezheft zu finden. Die Clematis blüht in ihrer Pracht auf der Seite des Lebens, und Burger erfreut sich am wundervollen Bau der aufstrebenden Kletterpflanze, welche die Geheimnisse des Lebens kennt und auch der göttlichen Bewunderung gewiss sein darf.

Die dritte Fassung des Gedichts «Die Clematis» (publiziert in Die Kirchberger Idyllen, 1980) ist ein schönes Beispiel für die Weiterentwicklung und Überarbeitung des eigenen Textes. Im Nachlass befinden sich fünf im Juni 1978 entstandene Fassungen des Gedichts, die in ihrer Länge kontinuierlich von 10 auf 22 Verse ausgebaut worden sind. Es tauchen nicht nur neue Motive auf, sondern es kommt auch zu Variationen und Erweiterungen. Auffällig ist, dass die ersten zwei und die letzten beiden Verse der ersten Version in allen Fassungen mit minimalen Abweichungen bestehen bleiben und so den Rahmen des Gedichtes bilden:

Sommer um Sommer prangt in neuer Pracht die Clematis,
Klettert dem Traufrohr entlang übers Dach bis zum First.
[…]
Dich herunterzuschneiden, wer vermässe sich dessen,
Rankst du doch vom Grund bis in den Himmel empor.

In diesen Rahmen setzt Burger Beobachtungen, wissenschaftliche Erkenntnisse und persönliche
Reminiszenzen und lässt so ein umfassendes und prächtiges Porträt dieser ihn faszinierenden, sich emporschlingenden Clematis entstehen.

 

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Biografische Notiz
Hermann Burger wurde am 10. Juli 1942 in Menziken geboren. Nach der Matura studierte er zunächst Architektur an der ETH Zürich, bevor er an die Universität wechselte und Germanistik, Kunstgeschichte und Pädagogik belegte. Während seiner Studienzeit heiratete er Anne Marie Carrel, mit der er einige Jahre später zwei Söhne hatte, und veröffentlichte den Gedichtband Rauchsignale und Bork, eine Sammlung von zehn Prosastücken. Neben der schriftstellerischen Tätigkeit verfolgte Hermann Burger auch die germanistische Laufbahn mit der Dissertation über Paul Celan und der Habilitation Studien zur zeitgenössischen Schweizer Literatur. Er war Privatdozent an der ETH Zürich und Redaktor für Literatur-Beiträge an verschiedenen Zeitungen.

Literarische Erfolge feierte Burger mit den Romanen Schilten, Die künstliche Mutter und Brenner sowie den Erzählungen Diabelli und Blankenburg. Dazwischen kehrte er mit den Kirchberger Idyllen noch einmal zur Lyrik zurück und stellte darin zugleich seine poetologisch-metrischen Kenntnisse unter Beweis. Seine phasenweise grosse Produktivität wurde immer häufiger durchbrochen von Krankheit und Depressionen. Am 28. Februar 1989 starb er an einer Medikamenten-Überdosis an seinem Wohnsitz im Pförtnerhaus von Schloss Brunegg.

Hermann Burger hinterliess ein Werk, für das er u. a. 1983 mit dem Hölderlin-Preis und 1985 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet worden war. In seinem Werk fasziniert der Aargauer Autor vor allem durch seine Sprachartistik und sprachschöpferische Leistung, aber auch durch seinen originellen, teils witzigen, teils skurrilen Umgang mit Wissenschaften und Wissensgebieten. Thematisch überwiegt in seinem Werk die Auseinandersetzung mit Krankheit, (Schein)tod und Suizid. Letztere Thematik gipfelt im aphoristischen Tractatus logico-suicidalis.

Im Hinblick auf die Gründung des Schweizerischen Literaturarchivs erwarb das Bundesamt für Kultur im Oktober 1989 den literarischen Nachlass Burgers von dessen Erben. Dieser umfangreiche Nachlass besteht aus den Werkmanuskripten, Skizzen, Notizen und weiteren Materialien vor allem zur Prosa und zum Bereich Essayistisches/Publizistisches, dann zur Lyrik, zur Dramatik sowie zu zeichnerischen und musikalischen Entwürfen. Erwähnenswert ist zudem die Korrespondenz, denn Hermann Burger pflegte mit vielen namhaften Kolleginnen und Kollegen der literarischen Szene briefliche Kontakte. Der Autor bewahrte wohl die meisten Briefe sorgfältig auf und sammelte auch seine eigenen Briefe als Durchschläge oder in Form von Kopien. Bemerkenswert ist seine rund 35 Titel umfassende Tabak-Bibliothek. Schliesslich runden zahlreiche Presseartikel zu Leben und Werk des Autors sowie Fotos, Ton- und Video-Dokumente den interessanten Bestand ab.